Wer aufmerksam die Zeitung liest oder wahlweise die lokalen News im Internet, der stieß in den vergangenen Tagen auch auf einen Vorschlag der Vizechefin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gitta Connemann. Die Politikerin fordert, dass Tätowierer eine Pflichtberatung vor dem Tätowieren durchführen und dass anschließend eine verpflichtende Bedenkzeit eingehalten wird, bis es zum Stechen kommt.
Wann muss ich in Deutschland zur Pflichtberatung?
Verpflichtende Beratungen kennen wir bereits aus anderen Branchen. Studierende beispielsweise müssen an vielen Hochschulen in den ersten Semestern eine Pflichtberatung wahr nehmen. In diesen Gesprächen wir analysiert, ob sie gut zurecht kommen und anschließend sie müssen das Gespräch nachweisen können.
- Eltern, die ein Kind adoptieren, müssen beim Jugendamt ebenfalls Pflichtberatungen durchlaufen. In ihrem Fall werden Erfolge und Probleme in der Erziehung und die Entwicklung des Kindes thematisiert.
- Eine verpflichtende Gesundheitsberatung müssen seit letztem Jahr bundesweit alle Prostituierten durchlaufen. Ein Arzt oder eine Ärztin klärt sie darin über mögliche Risiken von sexuell übertragbaren Krankheiten auf und gibt Tipps rund um das Thema Verhütung.
- Auch Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen möchten, müssen sich vorab in die Pflichtberatung bei einer zertifizierten Stelle begeben, denn sonst bekommen sie keinen Arzttermin, um die Abtreibung durchführen zu lassen.
Das ist eine ziemlich kuriose Mischung, findet ihr auch? Studierende, Prostituierte, ungewollt Schwangere, Adoptiveltern und demnächst auch Tattookunden, sie alle brauchen eine verpflichtende Beratung seitens unserer Behörden.
Pflichtberatung mit Bedenkzeit für ungewollt Schwangere und Tattookunden
Eine obligatorische Bedenkzeit zwischen der Pflichtberatung und der Durchführung des zweifelhaften Wunsches gibt es sonst nur für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch planen. Nach dem verpflichtenden Gespräch bei einer Beratungsstelle, müssen sie drei Tage warten, bevor der Abbruch von einem Arzt durchgeführt werden darf. Dem behandelnden Arzt legt die Frau eine Bescheinigung vor, die sie beispielsweise bei pro Familia für ihr Gespräch erhalten hat.
Wie genau die Pflichtberatung und die anschließende Bedenkzeit in der Tattoobranche durchgeführt werden soll, lässt die Politikerin offen. Sie erklärt nicht, ob wie im Fall der ungewollt Schwangeren eine außenstehende Institution die Beratung vornimmt oder der Tätowierer selbst. Ebenso keine Informationen bekommt man zu den Plänen, wie lang die Bedenkzeit für Tattookunden sein muss, um sich richtig zu entscheiden.
Warum ist eine Pflichtberatung nötig?
Laut Connemann dürfe es nicht sein, dass eine lebenslang sichtbare Entscheidung spontan getroffen werden darf. Auch möchte sie Entscheidungen für eine Tätowierung unter Alkoholeinfluss oder unter dem Druck einer Gruppe oder Clique vermeiden. Sie kritisiert außerdem, dass die Tattoobranche weitgehend umreguliert tätig ist und man noch nicht mal weiß, wie viele Menschen in Deutschland dieses Gewerbe ausüben.
Eine Umfrage des Statistik Portals Statista gibt an, dass in Deutschland c.a. zwölf Millionen Menschen eine oder mehrere Tätowierungen tragen. Laut einer Studie für Konsumforschung sind 700.000 Menschen unzufrieden mit ihrer Tätowierung und wollen sie eventuell entfernen lassen.
Diese Zahlen sind natürlich etwas schwammig, wenn man bedenkt, dass von den zwölf Millionen tätowierten Deutschen die meisten nicht nur eine einzige Tätowierung tragen. Um ein realistisches Abbild der Situation zu schaffen, wüsste ich gerne die Anzahl aller Tätowierungen und im vergleich dazu die Zahl der Tätowierungen, die von ihrem Träger bereut werden. Ich persönlich trage 18 Tätowierungen. Vier davon finde ich heute nicht mehr schön und eine einzige würde ich überdecken lassen, wenn sich die Möglichkeit ergibt.
In wie weit ruinieren ungewollte Tattoos das Leben ihrer Träger?
Wie grade schon erklärt, trage ich genau eine Tätowierung, deren Aussehen und Bedeutung mir wirklich nicht mehr zusagt. Sollte ich eines Tages genug Zeit und Geld übrig haben, würde ich diese Tätowierung mit einer neuen überdecken lassen. Aber wie sehr leide ich unter dieser Fehlentscheidung? Gar nicht… Vielleicht liegt es daran, dass ich mehrere Tattoo trage und das eine Bild im Kontext mit den anderen nicht auffällt. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass eine unschöne Tätowierung nicht mehr macht, als nicht schön zu sein. Sie tut nicht weh, sie steht nicht in meinem Arbeits- oder Führungszeugnis, sie kostet kein Geld, sie schränkt mich in keiner Weise ein.
Obwohl die Tätowierung auf meinem Unterarm prangt und somit für mich täglich sichtbar ist, kann ich nicht behaupten, unter dieser Fehlentscheidung zu leiden. Es war eine dumme Idee, diese Idee macht mich nicht schöner, aber das war es auch schon.
Anders sieht es aus, wenn man seine Fehlentscheidung im Gesicht oder auf den Händen trägt. Ich gehe jedoch ganz stark davon aus, dass nur ein minimaler Bruchteil aller Tätowierungen, die von ihrem Träger bereut werden im Gesicht oder auf den Händen prangt.
Ehrenkodex Hals, Hand, Gesicht
Seit Jahrzehnten gibt es in der Tattoobranche eine Art Ehrenkodex für Tätowierungen, die auf den Händen, am Hals oder im Gesicht sitzen. Nur wer den Großteil aller anderen Körperstellen bereits tätowiert hat, darf sich die genannten sichtbaren Körperstellen ebenfalls tätowieren lassen. Kein seriös arbeitender Tätowierer würde einen Kunden mit kaum sichtbaren Tätowierungen ein markantes Bild auf die Kehle zaubern. Alle Tätowierer, die diesem ungeschriebenen Gesetz entgegen handeln, würden dies auch tun, wenn es eine staatliche Regelung gäbe, die diese Fälle einschränken soll. Eine Ausnahme bilden in dem Zusammenhang natürlich die kleinen Fingertätowierungen, die vorzugsweise an der Fingerinnenseite tätowiert werden und in den letzten drei Jahren eine riesige Trendwelle ausgelöst haben. Bei diesen Tätowierungen muss ich einräumen, dass sie sicher oft von Kunden bereut werden, da man erst nach mehreren Monaten nach Beginn dieser Trendwelle gesehen hat, dass sie schlecht haltbar sind und nicht so schön bleiben, wie gedacht. Einschränkend muss man jedoch auch feststellen, dass es für unsere Branche kaum öffentliche Weiterbildungsmaßnahmen oder Fachzeitschriften gibt, in denen solche Phänomene für alle Gewerbetreibenden aufgeschlüsselt werden. Ich kenne kaum einen Berufszweig, der seine Mitglieder nicht weiterbildet, unterstützt und handwerklich schult – außer die Tattoobranche…
Pflichtberatung als Mittel gegen die fehlende Regulierung der Branche
Kommen wir zurück zum Kernthema dieses Artikels. Frau Connemann bemängelt, dass unsere Branche weitgehend unreguliert tätig ist. Sie kritisiert außerdem fehlende Sicherheitsstandards. Diese Aussagen kann ich nur bedingt nachvollziehen.
In welchen Punkten ist die Tattoobranche unreguliert
– Berufszugang: Jeder Mensch kann in Deutschland ohne Nachweis der Professionalität ein Tattoostudio eröffnen und gewerblich tätowieren.
In welchen Punkten ist die Tattoobranche reguliert
– Behördliche Hygieneüberwachung: Jedes registrierte Tattoostudio wird in Deutschland vom örtlichen Gesundheitsamt überwacht und regelmäßig auf Einhaltung der Hygienestandards kontrolliert
– Farbmittelverordnung: In Deutschland haben wir eine der europaweit strengsten Farbmittelverordnungen. Alle auf dem deutschen Markt zugelassenen Farben werden regelmäßig durch eine unabhängige Behörde untersucht. Jeder Tätowierer kann bei Erwerb seiner Farbe eine detaillierte Broschüre mit allen Inhaltsstoffen und Prüfungen erhalten.
– Bauaufsicht: Jedes Tattoostudio muss über einen Bauantrag bei der jeweiligen Stadt genehmigt werden. Das Bauamt überprüft die Räumlichkeiten und ob in der Gegend eventuell unzumutbar viele Tattoostudios angesiedelt sind
Ihr merkt, so unreguliert ist die Tattoobranche gar nicht. Gefühlt herrscht natürlich Sodom und Gomorrah, was ich jedoch auf den heiklen Punkt zurück führe, dass in Deutschland jeder Mensch gewerblich tätowieren darf ohne eine Ausbildung durchlaufen zu haben oder einen Nachweis seines Könnens erbringen zu müssen.
Lest hierzu gerne auch meine Artikel, was passiert, wenn das Gesundheitsamt im Studio vorbei kommt und welche Risiken es beim Tätowieren gibt.
Schwarze Schafe gibt es immer und neue Gesetze erreichen sie nicht
Connemann merkt an, dass man in Deutschland gar nicht wisse, wie viele Menschen das Tätowierhandwerk ausüben, da viele keine Gewerbeanmeldung haben und somit auch die behördliche Hygieneüberwachung umgehen. Dieses Phänomen lässt sich jedoch auch mit einer Pflichtberatung oder einer obligatorischen Wartezeit oder noch anderen Maßnahmen nicht vermeiden. So lange Menschen Farbe und Tattoomaschinen im Internet bestellen können, werden Tätowierungen im Wohnzimmer entstehen. Diese Menschen erreicht man auch durch strengere Regulierung der gewerblichen Tätowierer nicht.
Ich fühle mich nicht angesprochen
Das Schreckgespenst der Pflichtberatung macht mir momentan noch keine Angst. In meinem Tattoostudio wartet man sowieso mehrere Monate auf einen Termin. So ist die Wartezeit zwischen Beratung und Stechen obligatorisch, ob der Staat es nun so möchte oder nicht.
Natürlich steche ich auch spontan Tattoos ohne Termin innerhalb meiner Öffnungszeiten oder an Walk-In Days. In der Regel haben sich jedoch auch diese Kunden bei mir vorab über den Preis oder die Machbarkeit des Motivs informiert, es hat also eine Beratung statt gefunden.
Weiterbildung statt Verpflichtung
Wenn es nach mir ginge, würde ich versuchen, die Branche auf anderen Wegen zu regulieren. Wobei „regulieren“ in diesem Zusammenhang ein schwieriges Wort ist. Ich würde eher sagen, man kann die Branche professionalisieren, indem man mehr Weiterbildungsmöglichkeiten für Tätowierer anbietet. Die Industrie und Handelskammern bieten für fast jeden Berufszweig tolle Lehrgänge und Fortbildungen an, warum nicht auch für Tätowierer? Hygienefortbildungen könnte man verpflichtend machen, denn schlimmer als ein hässliches Tattoo ist immer noch ein Tattoo, welches eine blutübertragbare Krankheit oder eine Infektion als Gratiszugabe mitgebracht hat.
Mein ironisches Fazit zur Pflichtberatung
Wir halten fest, dass die einzige Pflichtebratung mit obligatorischer Bedenkzeit momentan für den Bereich Schwangerschaftsabbruch in Deutschland real ist. Jetzt soll das Tätowieren hinzu kommen. Vergleicht man die beiden Bereiche, kann man sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen.
Streng genommen müsste die Pflichtberatung plus Bedenkzeit dann vor dem Lasertermin zur Tattooentfernung stattfinden, denn der ungeschützte Geschlechtsverkehr ohne Kinderwunsch ist ja auch für jeden unreguliert realisierbar. Die Früchte des eigenen Handelns stehen dann zur Diskussion, wenn die Ernte unvermeidbar wird.
Zugegeben, der letzte Absatz war sehr provokant und ich möchte niemanden verurteilen, der ungewollt schwanger wird. Es gibt tausend Szenarien, wie es dazu kommen kann und die Belastung für die betroffenen Frauen ist immens.
Jedoch bin ich ebenfalls der Meinung, dass auch ungewollte Tattoos durch eine Beratung nicht vermieden werden können. Ich spreche in meinem Studio wöchentlich mit Menschen, die eine ungeliebte Tätowierung überdecken lassen wollen. Die Gründe dafür sind so unterschiedlich, dass sie durch eine Pflichtberatung nicht vermieden werden können. Der Eine hat zugenommen und das Tattoo ist gerissen, der Nächste hat ein Tribal, das einfach nicht mehr zeitgemäß und trendig ist. Ein Anderer hatte Pech mit der Wahl des Tätowierers und mag den Stil seiner Tätowierung nicht. Der Klassiker ist natürlich der Name des Ex-Partners, der überdeckt werden muss.
Was ich noch nie erlebt habe, ist dass die Tätowierung den Menschen in irgend einer Weise daran hindert, sein Leben zu leben.
Ausverkauf der Freiheit
Ich erbitte mir das Recht, auch weiterhin Fehlentscheidungen treffen zu dürfen. Sie gehören zum Leben dazu und bereichern mich an Erfahrungen. „Vater Staat“ sorgt dafür, dass die Ampel funktioniert, mit deren Hilfe ich vertrauensvoll und ungefährdet eine Kreuzung überquere, Vater Staat stellt sicher, dass ich meinen Kühlschrank mit Lebensmitteln füllen kann und dass ein Arzt sich meiner Krankheiten annimmt, egal in welcher beruflichen Situation ich mich befinde. Er sorgt außerdem dafür, dass ich einen Internetzugang habe und mich über öffentliche Medien haarsträubende Zeitungsartikel erreichen, wie der über die Pläne der Frau Connemann. Aber Vater Staat ist eben nicht Mutter Staat. Ich möchte mich nicht vom Staat bemuttert fühlen. Ich bin alt genug, selbst zu entscheiden, was ich mit meinem Körper mache und ich bin ebenfalls alt genug, um mit eventuellen Fehlentscheidungen selbst fertig zu werden.
Was kommt als nächstes? Eine Pflichtberatung, wen ich heiraten sollte und wie viele Kinder ich in die Welt setzen sollte? Eine Pflichtberatung bevor ich mich auf Twitter politisch äußere, weil ein viraler Tweet sich auf mein ganzes Leben auswirken kann? Wie wäre es mit einer Pflichtberatung in welches Urlaubsland ich reise und mit welchen Krankheiten ich mich vor Ort infizieren kann?
Gegenvorschlag meinerseits
Eine Pflichtberatung für Politiker, die als gewählte Vertreter des Volkes agieren. Ich möchte, dass Politiker mehrere Tage Bedenkzeit bekommen, um sich entscheiden zu können, ob ihr politisches Vorhaben wirklich von Relevanz ist.
- Verbessert dieser Vorschlag die Lebenssituation meiner Wähler signifikant?
- Trägt dieser Vorschlag zur allgemeinen Erhöhung der Lebensqualität bei?
- Schützt dieser Vorschlag die Gesundheit meiner Wähler?
- Fördert dieser Vorschlag die Wirtschaft und mehrt er somit den Wohlstand meiner Wähler?
- Haben die Menschen mich gewählt, damit ich mich um dieses Thema kümmere?
- Und vor allen anderen Dingen: Ist dieser Vorschlag wirklich wichtig oder gibt es eventuell Themengebiete, die dringlicher zu behandeln sind….