Oder doch?
Tätowierte und Tätowierer* hören oft den Satz „Das ist ja eine richtige Kunst!“, wenn sie stolz ihre Tattoos präsentieren. Mein Lächeln und mein Dankeschön wirken daraufhin immer leicht gequält, denn die meisten meiner Tattoos sind keine Kunst, sondern einfach handwerklich sauber und optisch ansprechend ausgeführt.
Was ist Kunst?
Okay, die Frage ist zu groß für diesen Tattooblog. Trotzdem möchte ich die grundsätzlichen Unterschiede einiger Kunstformen kurz benennen.
Freie Kunst
Künstler, die freischaffend arbeiten, erschaffen Werke, die aus ihrer inneren Motivation entstehen. Das Klischee des verarmten Künstlers speist sich aus der Tatsache, dass freie Künstler ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit nachgehen. Kurz gesagt: es ist ihnen egal, ob sie ihre Werke verkaufen können. Sie tun nur das, was ihnen gefällt und nehmen das Risiko der Armut in Kauf. In der freien Kunst gibt es selten bis nie einen Auftraggeber, der ein Thema oder Motiv vorgibt.
Kunsthandwerk
Kunsthandwerker betätigen sich in klassischen Berufsfeldern wie Töpfern, Basteln, Schmieden und anderen Tätigkeiten, die durch kreative Einflüsse optisch aufgewertet werden können.
Im Kunsthandwerk werden meist Unikate erschaffen, wohingegen das Kunstgewerbe auch Serienproduktionen umfasst. Hier nähern wir uns dem gewinnorientierten kreativen Schaffen. Kunsthandwerker haben meistens die Absicht, ihre Stücke gut zu verkaufen.
Design und Illustration
Auch Designer und Illustratoren werden oft mit Künstlern in einen Topf geworfen. Da sie kreative und optisch ansprechende Werke erzeugen, ist der Betrachter geneigt von Kunst zu sprechen. Der entscheidende Unterschied liegt hier in der Motivation des Kreativen. Designer und Illustratoren arbeiten meistens an Auftragsarbeiten. Auch, wenn sie Werke erschaffen, die dem Kunden im Traum nicht eingefallen wären, so hat doch der Kunde das Thema vorgegeben und nimmt Einfluss auf das Projekt. Außerdem folgt die Optik oft der Funktion, wodurch die Funktion einen höheren Stellenwert bekommt, als die Kreativität.
Die Tattoobranche und die Kunst
Das Tätowieren hat auf jedem Kontinent und in vielen verschiedenen Jahrhunderten unterschiedlichen Zwecken gedient. Tattoos können als Körperschmuck dienen, sie sind Kommunikationsmittel und werden in anderen Kulturen für heilige Traditionen und Rituale verwendet. Die großen Unterschiede in der Funktion und der Motivation können auch ausschlaggebend dafür sein, dass man sie nicht generell im Kunstbereich verorten kann.
Natürlich gibt es viele Tätowierer, die ihre Arbeit als Kunst betrachten.
Ich möchte hier niemandem seine Einstellung oder Selbstwahrnehmung absprechen. Bei uns in Deutschland gibt sogar einen Verein -Tätowierkunst e.V.-, der sich zum Ziel gesetzt hat, Tattoos offiziell als Kunstform zu etablieren. Auf seiner Website könnt ihr euch über die Vereinsarbeit informieren.
Bisher laufen diese Bemühungen jedoch ins Leere, denn unser Gesetzgeber ordnet Tattoos weiterhin im Bereich „Körpernahe Dienstleistungen“ ein. Die kreative Komponente unseres Berufs reicht nicht mal für den Begriff „Kunsthandwerk“ aus, wenn man den offiziellen Einordnungen folgt.
Warum ich meine Tattoos nicht als Kunst betrachte
Wer mich kennt, weiß, dass ich in meinem Beruf die Arbeit mit Menschen höher bewerte, als die kreative Eigenleistung, die ich einbringe. Mehr als zehn Jahre habe ich als flexibler Allrounder tätowiert und versuchte jedem Kundenwunsch gerecht zu werden. Erst seit wenigen Jahren versuche ich, meinen eigenen Vorlieben, was Motive und Stile angeht, in meinem Kalender mehr Raum zu geben.
Für mich hat der Kunde immer das letzte Wort und die größte Stimmgewalt, wenn es um den Entwurf und die Ausführung seines Tattoowunsches geht. Gern stelle ich meine eigenen stilistischen Vorlieben und meinen Geschmack hinten an, um dem Kunden das für ihn perfekte Tattoo zu erstellen.
Manch einer wird sich jetzt denken „Aber man ist nur dann richtig gut, wenn man das macht, was man liebt.“, und dem stimme ich voll zu. Ich liebe die Arbeit für Menschen. Schon als Kind entstanden Zeichnungen und kleine Bastelarbeiten bei mir nicht aus einer intrinsischen Motivation heraus. Ich hatte immer die größte Freude an der kreativen Arbeit, wenn ich wusste, für wen ich etwas mache und über was sich meine Familienmitglieder am meisten freuen.
Wenn wir nun die zu Anfang beleuchteten Kunstformen angucken, wird schnell klar, wo Kunst eingeschränkt und beschnitten wird und wie das auf Tätowierungen zu übertragen ist.
Freie Kunst hat keinen Auftraggeber, freie Kunst muss sich nicht gut verkaufen lassen und in der freien Kunst entscheidet allein der Künstler, was er macht und wie es am Ende aussieht.
Eine solche Haltung ist für mich mit dem Tätowierberuf nicht zu vereinen.
Ich stelle meine Kreativität in den Dienst meiner Kunden. Mein Kunde wünscht ich eine Tätowierung, verfügt jedoch nicht über die kreativen und handwerklichen Fähigkeiten, Entwurf und Ausführung eigenhändig umzusetzen. Als Dienstleister mit kunsthandwerklichen Fähigkeiten, bin ich in der Lage, den Wunsch zu erfüllen.
„Du bist eine richtige Künstlerin!“, habe ich oft gehört und werde ich vermutlich noch oft hören. Und jedes Mal wird meine innere Stimme mir sagen „Nein, bist du nicht, aber den Auftrag hast du optisch ansprechend umgesetzt.“
Tattoos als Dienstleistung und Kunsthandwerk
Wenn es nach mir ginge, würde ich für Tattoos eine neue Kategorie erfinden. „Kunstandwerkliche Dienstleistungen am Körper“
Die kreative Komponente kann uns niemand absprechen und für die meisten ist sie die Quelle der Kundenanfragen. Inzwischen gibt es für jeden Geschmack den passenden Tätowierer, der genau in dem Stil tätowiert, den der Kunde am schönsten findet. Da das Tätowieren auch handwerkliche Skills und Know-How voraussetzt, finde ich die Kategorie Kunsthandwerk durchaus passend.
Trotzdem bleiben die meisten Tätowierer Dienstleister.
Sie zwängen ihre Kreativität in einen Rahmen, der den Ansprüchen und Wünschen des Kunden entspricht. Weder wählt der Tätowierer die Körperstelle, noch die Größe, die Farbigkeit oder das Motiv selbst. Auch das Datum und die Uhrzeit der Ausführung muss mit dem Kunden abgestimmt werden. Somit handelt es sich ganz klar um eine Dienstleistung oder eine Auftragsarbeit.
Auch WannaDos, also Werke, die Tätowierer aus der eigenen Motivation zeichnen und an willige Kunden vergeben, sind meistens so angelegt, dass sie sich gut verkaufen lassen. Die eigenen Kreativität wird der Wirtschaftlichkeit untergeordnet.
Wo liegen die Nachteile, dass Tattoos nicht als Kunst gelten?
Würden Tätowierer als Künstler definiert, brächte ihnen das einige Vorteile in der Ausübung des Berufes mit.
Sie wären dann keine Gewerbetreibenden, sondern Freiberufler.
Vorteile freier Berufe:
- es gibt weniger Regulierungen, Verordnungen und Vorgaben durch Behörden
- es fällt keine Gewerbesteuer an
- manche Leistungen können mit 7 %, anstatt 19 % Umsatzsteuer versteuert werden
- Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse ist möglich
Vor allem die Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse ist eine attraktive Alternative zu einer privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung. Freiberufler zahlen lediglich 50% ihrer Beiträge selbst, den Rest übernehmen der Staat und Unternehmen, die Sozialabgaben im Bereich Kunst leisten müssen.
Fazit zu Tattoos als Kunst
Zugegeben hätte ich nichts dagegen, wenn das Tätowieren als freier Beruf anerkannt würde, denn die finanziellen Vorteile liegen auf der Hand.
Trotzdem hat für mich die Komponente der Dienstleistung das größere Gewicht, sodass ich die aktuelle Kategorisierung nachvollziehen kann. Dies ist jedoch meine eigene Einstellung zu meinem Beruf und eine subjektive Haltung zu meiner Arbeit. Da ich weiß, dass viele Tätowierer anders arbeiten und ihren Beruf anders bewerten würden, finde ich die Arbeit des Vereins Tätowierkunst sehr spannend und verfolge die daraus resultierenden Debatten mit Spannung und Neugier.
Mich interessiert, was du zu diesem Thema denkst. Sind Tattoos Kunst? Sollte der Beruf weniger reguliert werden und finanziell attraktiver werden? Oder bist du auch Team Dienstleistung und irgendwie auch konservativ genug, die damit verbundenen Regulierungen zu schlucken?
Über einen Kommentar, eine Mail oder eine Interaktion auf Instagram würde ich mich sehr freuen!
*hier wird nicht mehr gegendert
4 Kommentare
Kommentieren →Hallo ihr Lieben, danke für diesen Artikel. Erst dachte ich: Hmm, ja klar ist das Kunst…. Beim Lesen ist mir bewusst geworden, ohhh das macht Sinn. Und mir ist bewusst geworden, dass ich wohl zu den freien Künstlerinnen zähle. Was auch erklärt, warum ich es immer noch nicht gepackt habe wirtschaftlich mal einen Erfolg zu erzielen und die Arbeit mit Aufträgen echt ne Qual für mich sind. Die Erkenntnis hatte ich mein ganzes Studium über nicht (was auch echt kacke war- naja) Je mehr Beiträge ich von dir/euch lese, desto mehr hab ich Lust auf ein Tattoo von euch <3 Magische Grüße
Ich danke dir für den lieben Kommentar! Ich finde, dass diese Differenzierung auch in der Schule gelehrt/erklärt werden müsste, um Menschen vorzubereiten, die im Kreativen Bereich arbeiten möchten. Und wenn du mal Lust auf ein Tattoo hast, weißt du ja, wo du uns findest 😉
Liebe Esther,
als begeisterter Leser Deines Blogs und Vertreter einer auf Kreativbranchen spezialisierten Online-Marketing-Agentur, finde ich Deinen jüngsten Artikel über Tattoos und Kunst sehr anregend und aufschlussreich. Du hast in bemerkenswerter Weise ein Thema beleuchtet, das nicht nur Tätowiererinnen und Kunstliebhaberinnen, sondern auch uns als Marketingexperten betrifft.
Zunächst einmal möchten wir unsere Anerkennung für Deine differenzierte Betrachtung des Themas aussprechen. Die Unterscheidung zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Dienstleistung ist im Tätowierungsgeschäft in der Tat ein komplexes Feld, das eine tiefergehende Betrachtung verdient. Deine Einsicht, dass die Kreativität eines Tätowierers oft den Wünschen der Kund*innen untergeordnet wird, ist besonders interessant. Es hebt hervor, wie sehr Tätowieren eine Kunstform ist, die zugleich stark von Dienstleistungsaspekten geprägt ist.
In Bezug auf Eure Frage, ob Tattoos Kunst sind, stimmen wir zu, dass dies stark von der individuellen Herangehensweise und der Absicht des Tätowierers abhängt. Wir sehen Tattoos als eine einzigartige Form der Kunst, die sowohl individuelle Kreativität als auch handwerkliches Geschick erfordert. Gleichzeitig ist es eine Kunstform, die in einem Dienstleistungskontext ausgeübt wird, was sie von traditionelleren Kunstformen unterscheidet.
Als Marketingagentur, die Kreativschaffende unterstützt, sehen wir die potenziellen Vorteile einer Einstufung des Tätowierens als freien Beruf. Dies könnte nicht nur finanzielle Erleichterungen bringen, sondern auch die Anerkennung und Wertschätzung der Tätowierkunst als legitime Kunstform fördern. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich die Perspektiven auf diese Thematik sein können, je nachdem, ob man aus einer künstlerischen, geschäftlichen oder regulatorischen Perspektive darauf blickt.
Zum Abschluss möchten wir Dir für Deinen tiefgründigen und inspirierenden Beitrag danken. Dein Blog bietet eine wertvolle Plattform für den Austausch von Ideen und Perspektiven im Bereich der Tätowierkunst. Wir freuen uns darauf, weiterhin Teil Deiner Leserschaft zu sein und mit Dir gemeinsam die vielfältigen Facetten der Tätowierkunst zu erkunden.
Mit besten Grüßen aus Neuss,
Šukri Jusuf
Lieber Šukri,
ich danke dor von Herzen für deinen komplexen und wertschätzenden Kommentar zu meinem Artikel und das große Lob für meine Arbeit auf dem Blog. Es hat mich unheimlich gefreut, dass du dir so viel Zeit genommen hast, meine Erläuterungen zu analysieren und deine eigene Meinung darzustellen. Auch ich wünsche euch weiterhin viel Erfolg mit eurer Arbeit und freue mich, dich und dein Team als begeisterte LeserInnen hier zu begrüßen und hoffentlich zu halten 🙂
Ganz liebe Grüße aus Herdecke
Esther