Warum lassen Menschen sich tätowieren?
Diesen Artikel möchte ich einer omnipräsenten Frage meines Berufes widmen: aus welchen Gründen lassen Menschen sich tätowieren? Welche Motive und Hintergründe gibt es? Jeder Tattookunde hat seine eigene Rechtfertigung für seinen Tattoowunsch und viele Menschen sind der Meinung, dass die Antwort auf das „Warum“ eine stichhaltige Begründung braucht.
Gründe für eine Tätowierung
Wenn man als Tätowierer arbeitet, begegnen einem natürlich jeden Tag die unterschiedlichsten Geschichten, die den Wunsch nach einer Tätowierung nach sich ziehen. Die gängigsten sind wohl in der Beziehung zu anderen Menschen begründet. Kindernamen sind als das klassischste Beispiel zu nennen. In der Geschichte der Tätowierungen spielten jedoch die Namen der Partnerinnen eine größere Rolle. Diese zierten als Erinnerung die Haut des Matrosen, wenn er monatelang auf See unterwegs war. Auch prägende Lebensabschnitte wurden und werden gerne zum Anlass einer neuen Tätowierung herangezogen. Erlebnisse, wie der Tod eines geliebten Menschen, die eigene Hochzeit oder eine symbolische Verbindung zum liebsten Urlaubsort sind heute gängige Tattoo-Inspirationen.
Andere lassen sich auch ohne „Sinn“ tätowieren. Für sie sind Tattoo reines Schmuckwerk und dienen lediglich der Verschönerung der eigenen Haut.
Tätowierungen gab es schon immer
In meinem Studium habe ich eine umfangreiche Semesterarbeit zu dieser Fragestellung angefertigt. Sie beschäftigt sich mit dem Wunsch des Menschen sich tätowieren zu lassen. Allerdings geht es in dieser Arbeit nicht um den Auslöser für einen Tattoowunsch, sondern um die Frage, warum der Mensch überhaupt ein Bedürfnis hat, seine Haut mit permanenten Farben zu verändern.
Charles Darwin stellte im 19. Jahrhundert die These auf, dass das Tätowieren in jedem Winkel der Erde bekannt ist und ein ureigenes Bedürfnis des Menschen darstellt. Es gab und gibt kein Volk auf der Erde, das nie die Haut zu verändern versuchte. Der Mensch unterscheidet sich in diesem Punkt signifikant vom Tier. Tiere haben keinen Drang dazu, das eigene Aussehen selbstbestimmt zu verändern und zu optimieren. Die These der Selbstbestimmung des Menschen durch eine bewusste Veränderung des eigenen Körpers reicht zurück bis in die Bibel. Adam und Eva entwickelten durch die Vertreibung aus dem Paradies erstmals eine Körperscham und wollten ihre Blöße bedecken. Tätowierungen können, genau wie Kleidung, unser Aussehen verändern und unsere Erscheinung auf andere zielgerichtet manipulieren.
Ein rockiger Song mit tiefer Bedeutung
Ich möchte in diesem Artikel nicht meine ganze Semesterarbeit offen legen, da der Text sehr kompliziert und wissenschaftlich angelegt ist. Somit eignet er sich nicht als Artikel auf einem Internetblog für jeden Tattoo-interessierten Leser. Für eine leicht verständliche Zusammenfassung meiner Thesen ziehe ich einen Songtext heran, der alle gängigen Thesen anschaulich darlegt und so ein Verständnis für den Wunsch nach einer Tätowierung offenbart. Es handelt sich um das Lied „Stolz in der Haut“ der Band „Krawallbrüder“.
Totale Überreizung
Bis der erste Stich mich trifft
Alle Kraft auf einen Punkt fixiert
Der die Luft aus meinen Venen lässt
Und so langsam komme ich zu mir Farbe im Fleisch wie ich es willDer Schmerz sagt es ist für immer
Du wirst für immer bei mir sein
Es ist das was mich erinnert
Oh stich die Farbe tiefer rein
Du bleibst bei mir wohin ich auch immer gehIch will mehr Farbe
Gib mir Schmerz still meine Sucht
Treib mich in die Hörigkeit
Für diesen Stolz geb ich mein Blut hin
Bis ans Ende meiner Zeit
Gib mir Schmerz still meine Sucht
Stich nochmal zu ich bin bereit
Für diesen Stolz geb ich mein BlutDer Körper wehrt sich und mit jedem Stich
Wächst die Hörigkeit zu mir
Ich seh die Bilder wachsen der Vollendung gleich
Stich Leben und Tod in nacktes Fleisch
Mach mich schöner
Als von der Schöpfung vorgesehenMein Schicksal längst besiegelt
Denn von Dir komm ich nie los
So tief wie Du war noch keine bei mir
Keine sonst für die ich Blut vergoss
Die Qualen sind vergessen immer wenn ich Dich heut sehIch zeig allen was ich denke
Wo ich steh worauf ich scheissen kann
Hab mein Ängste tätowiert
Bei denen’s mir am Herzen friert
Und die Schmerzen geben zurück was die Erinnerung verdrängtUnd die Sucht sie schreit mich an
Dass ich für immer an ihr häng
Im Gegensatz zu jeder Schlampe
Bleibst Du bei mir und meiner Wampe
Ich brauch kein Weib ich brauch kein Bier nur Tätowieren
Dieser Text vereint alle Intentionen für eine Tätowierung
1. Der Schmerz sagt: es ist für immer
In einer schnelllebigen, unbeständigen Zeit sehnen sich die Menschen nach etwas beständigem. Endgültige Entscheidungen, wie eine Tätowierung, stehen in einem starken Kontrast zu unserem heutigen Lebensstil, in dem nicht mal der erlernte Beruf oder der Ehepartner ein Garant auf Lebenszeit darstellt.
2. Gib mir Schmerz, still meine Sucht
Wer kennt es nicht: Einmal angefangen hört die Sucht nach neuer Farbe in der Haut bei den meisten niemals auf. Tätowieren kann also auch zur Sucht werden und das 4., 5. und 6. Tattoo entstehen nur um des Tätowierens Willen, nicht mehr auf Grund einer tiefen Bedeutung. Schuld ist der Adrenalinausstoß, kombiniert mit Endorphinen, die nach Beendigung einer Tattoositzung ausgeschüttet werden. Dieses unvergleichliche Glücksgefühl möchte der Körper immer wieder erleben und das Gehirn verlangt nach frischen Tattoo.
3. Stich Leben und Tod in nacktes Fleisch. Mach mich schöner, als von der Schöpfung vorgesehen.
Hier ist der Bezug zur kulturhistorischen Geschichte erkennbar. Der oben angesprochene Erkenntnismoment bei Adam und Eva, die ihre Nacktheit kaschieren wollten, wohnt dem Menschen bis heute inne. Die Haut dient als Kommunikationsmittel und wir können sie mit selbstgewählten Motiven anreichern und so unser Innerstes kaschieren.
4. Ich zeig’ allen, was ich denke, wo ich steh’, worauf ich scheißen kann
Auch hier dient die Veränderung der Haut wieder der Kommunikation. Der Mensch macht sich bestimmte Bilder zunutze, um sein Wesen, seinen Charakter und seine Einstellungen über die Haut zu transportieren und zu präsentieren.
5. Und die Schmerzen geben zurück, was die Erinnerung verdrängt.
Tätowierungen sind für viele Menschen eine Bewältigungshilfe für prägende oder traumatische Erlebnisse. Mithilfe einer Tätowierung kann ein Erlebnis endlich „abgeschlossen“ werden. Auch gewährleistet eine Tätowierung die lebenslange Erinnerung. So kann das „Niemals vergessen“ eines geliebten Menschen oder eines besonderen Erlebnisses verbildlicht und manifestiert werden.
Das fehlende Verständnis kommt oft von anderen Tattookunden
Das war jetzt viel Analyse und hypothetische Interpretation. In meiner täglichen Arbeit passiert es nur selten, dass ich einen Wunsch nach einer Tätowierung offen in Frage stelle. Das passiert, wenn ich denke, dass die Idee nicht durchdacht oder wirklich nicht vertretbar ist. Aber wie in diesem Artikel deutlich wird, jeder hat andere Gründe, sich tätowieren zu lassen. Es ärgert mich oft, wenn Kunden sagen, dass Tätowierungen immer sinn-stiftend und mit einer wichtigen Bedeutung verknüpft sein sollten. Ich hoffe, durch diesen Text wird deutlich, dass jede Tätowierung ihren Sinn hat. Auch eine reine Schmucktätowierung kann für den Träger von Bedeutung sein. Jeder Mensch möchte sein Aussehen selbstbestimmt beeinflussen, das fängt bei der Wahl der Kleidung und des Haarschnitts an. Ohrschmuck ist gesellschaftlich uneingeschränkt akzeptiert. ebenso wie ein Wechsel der Haarfarbe. Warum sollte das nicht auch für Tätowierungen gelten?
Wer sich tätowiert, ist Mensch
Diese Überschrift ist ein Zitat von meinem Tätowiererkollegen Moritz Velten von Schwarzwerk Tätowierungen, der ebenfalls Kommunikationsdesign studiert hat. Er setzte sich in seiner Abschlussarbeit auch mit dieser interessanten Fragestellung auseinander und beim Lesen seiner Arbeit, stieß ich auf dieses alles sagende Zitat.Der Mensch lässt sich tätowieren, weil er Mensch ist und weil er es kann. Klingt platt, aber nach dieser ausführlichen Analyse versteht ihr den tiefgründigen Hintergrund. Ich hoffe, dass Tätowierungen weiterhin den Weg der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz gehen und es eines Tages normal sein wird, auch sichtbare Tätowierungen zu tragen ohne sich rechtfertigen zu müssen. Vielleicht lesen auch einige mit, die Tätowierungen anderer bisher belächelt oder verurteilt haben, weil sich ihnen der Sinn dahinter nicht erschließt oder sie die Sinnhaftigkeit in Frage stellen. Ich wünsche mir, dass ihr mehr Respekt und Toleranz für jede Tätowierung und den dazugehörigen Träger aufbringt.
2 Kommentare
Kommentieren →[…] Jede junge Generation muss sich von der vorherigen abnabeln. Ein neues Selbstbild muss definiert werden. Zu der gelungenen Persönlichkeitsentwicklung eines jeden jungen Menschen gehört auch die Frage nach dem „Wie möchte ich aussehen?“. Für mich ist es naheliegend, dass eine Generation, die mit Selfies und unzähligen Social Media Profilen aufwächst, dem eigenen Aussehen einen wichtigeren Stellenwert beimisst, als es vor dem Internet der Fall war. Profile auf Social Media stellen uns täglich Fragen, wie „Wer bist du?, Was machst du gerade? Wie fühlst du dich?“ Dementsprechend viel Wichtigkeit messen wir diesen Fragen bei. Die eigene Persönlichkeit soll sichtbar gemacht und nach außen transportiert werden. Tätowierungen bieten hier ein ideales Kommunikationsmittel, mit dem ich mich und meinen Charakter definieren und nach außen präsentieren kann. Lies hierzu auch meinen Artikel, warum Menschen sich tätowieren lassen. […]
Guten Tag an die tätowierte und nicht tätowierte Leserschaft,
Warum sich die Menschen tätowieren lassen? Über diese Frage habe ich mir auch schon viele Gedanken gemacht und habe dabei noch keine schlüssige Antwort gefunden. Die Antworten sind vermutlich so verschieden und „bunt“ wie die Menschen, die sich tätowieren lassen. Wenn ich die Frage andersrum formuliere, warum ich mich tätowieren lasse, habe ich viele Antworten aber auch Fragen an mich selbst. Seit meiner Kindheit haben mich tätowierte Menschen fasziniert und ich träumte immer davon auch mal viele bunte Bilder auf der Haut zu tragen, die man nicht abwaschen kann. Tattoo-Studios gab es in der Zeit als ich um die 20 Jahre alt war bei uns fast keine. Erst im Alter von 32 Jahren liess ich mir mein erstes Tattoo stechen. Es war ein grosser Schritt in eine Richtung in meinem Leben den ich nie bereute. Danach hat es mich gepackt und ich war der Leidenschaft meinen Körper bunt zu verschönern verfallen. Zwischendurch legte ich eine gesundheitsbedingte Pause von 14 Jahren ein. Fortan hatte ich beinahe monatlich bis zum heutigen Tag Tattoo-Termine. Momentan bin ich flächendeckend vom Halsansatz an bis zu den Füssen und Händen tätowiert. Im Frühling werden noch die Achselhöhlen tätowiert und fast alle noch offenen Lücken gefüllt. Das Gesicht und der enge Intimbereich werden nicht tätowiert.
Mich faszinieren flächig tätowierte Menschen darum möchte ich auch so aussehen. Somit habe ich die Frage an mich eigentlich beantwortet, ich finde es einfach schön. Wenn man die Tiere in der Natur beobachtet haben sie doch fast alle ein buntes Fell-, Federn- oder Schuppenkleid. Wir Menschen werden nackt geboren und haben doch die Möglichkeit unseren Körper mit Tätowier-Kunst verzieren zu lassen. Natürlich ist das Tätowieren auch mit mehr oder weniger heftigen Schmerzen verbunden. Ich lag auch schon unter der Tattoo-Nadel und dachte mir, warum tust du dir diese Schmerzen an. Rippengegend und Kniekehlen lassen grüssen. Wenn du schlussendlich das Ergebnis siehst, sind doch alle Schmerzen vergessen und die Glücksgefühle sprudeln über. Mit der richtigen langatmigen Atemtechnik überlebte ich jede Sitzung. Für inzwischen hartgesottene Tattoo-Enthusiasten lohnt sich das Leiden immer. Ich fühle mich in meiner stark tätowierten Haut wohl und bin glücklich dabei.
Es ist auch immer schön zu sehen, wie es inzwischen vielen anderen Menschen auch so ergeht. Wenn man eine Tattoo-Convention besucht, sieht man viele Gleichgesinnte. Daher besuche ich oft Conventions und treffe mich mit vielen guten Freunden die sich für diese Kunst begeistern. Man kennt sich halt inzwischen unter den Tätowierten. Corona bedingt finden allerdings momentan keine Tattoo-Conventions statt.
Während der warmen Jahreszeit sieht man doch heutzutage viele schön tätowierte Menschen, darum fällt unsereins auch nicht mehr auf. Wenn ich angesprochen werde zeigen die Leute meistens positives Interesse. Negative Äusserungen kenne ich fast nicht. Ich lasse mich tätowieren weil es mir gefällt und wenn es anderen auch gefällt freut es mich sehr, aber ich kann nicht erwarten, dass es allen anderen auch gefällt.
Nun wünsche ich allen tätowiert bunten, allen mit einer leicht überdurchschnittlichen Metallhaltigkeit begeisterten und untätowierten Menschen alles Gute im neuen Jahr bleibt Gesund und ohne Corona
liebe bunte Grüsse
Rudi