Gatekeeping in der Tattoobranche

Da ich leider zu viel Zeit in den sozialen Netzwerken verbringe, lese ich oft teilweise aggressive Diskussionen rund um den Tätowierberuf.
Der Begriff Gatekeeping ist im Moment besonders gern gewählt. Die überwiegend jungen Menschen werfen den etablierten Tätowierern vor, Gatekeeping zu betreiben.

Was ist Gatekeeping?

Ein Gatekeeper ist ein Pförtner oder Türsteher. Je nach Lebensbereich meint Gatekeeping unterschiedliche Prozesse innerhalb derer eine Person oder Gruppe mit mehr Macht oder Wissen, als andere, den Zugang zu den Ressourcen verwaltet oder kontrolliert. Beispielsweise kann es den Ausschluss bestimmter Personengruppen aus gesellschaftlichen Räumen bedeuten. Gatekeeping kann sich im journalistischen Bereich auf auf das kontrollierte Verteilen von Informationen beziehen. Der Begriff ist auf viele Facetten unserer Gesellschaft anwendbar.

Was meint Gatekeeping?

In der Tattoobranche meint Gatekeeping den uralten Kampf der nachkommenden Generation, um an Informationen rund um den Tätowierberuf zu gelangen.
Da das Tätowieren kein Ausbildungsberuf ist, sind keine Zugangsregelungen vorhanden.
Die Wege in den Beruf sind vielschichtig und zwei Umstände haben sie gemeinsam:
1. Jeder, der es möchte, kann diesen Beruf ausüben.
2. Jeder, der erfolgreich in dem Beruf arbeitet, hat sich sein Wissen zum Erfolg hart erarbeitet.

Lies zu diesem Thema auch gern meinen Artikel „Wie wird man Tätowierer?“.

Die junge Generation beschwert sich darüber, dass alteingesessene oder etablierte Tätowierer keine ausführlichen Antworten, Anleitungen, Tipps oder Ratschläge geben. Viele junge Menschen versuchen vergeblich, einen Mentor oder einen Ausbildungsplatz in der Tattoobranche zu bekommen.

Die Tatsache, dass die meisten etablierten Tätowierer einen ebenso steinigen Weg gegangen sind, um in ihrem Traumberuf zu landen, führt zum Leidwesen der jungen Generation nicht zu mehr Verständnis oder Großzügigkeit im Bezug auf die Freigabe von Informationen. Tätowierer geben in der Regel nicht gern ihre Berufsgeheimnisse preis.

Warum betreiben viele Tätowierer Gatekeeping?

Nicht wenige haben ihr Wissen durch harte Arbeit im Tattoostudio erworben, mussten jahrelang putzen und zeichnen, um Zugang zu Wissen und Fähigkeiten zu erhalten.
Andere haben viel Geld in Onlinekurse oder Seminare investiert.
Wieder andere haben sich in mühsamer Recherche und Learning by Doing alles selbst beigebracht, sind hundert Mal qualvoll gescheitert, um am Ende ihren Traum zu verwirklichen.

Außerdem handelt es sich beim Tätowieren um eine Fähigkeit, mit denen die meisten Tätowierenden sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Wissen rund um den Beruf ist also ein kostbares Gut, man kann dieses Wissen und die damit verbundenen Fähigkeiten zu Geld machen.

Unfreiwilliges Gatekeeping

Der Vollständigkeit halber muss auch auf unfreiwilliges Gatekeeping eingegangen werden. Studios, die generell keine Azubis aufnehmen, stehen in der Kritik. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass nicht jedes Studio die räumlichen oder personellen Kapazitäten hat, um Auszubildende in den Betrieb zu integrieren.

Da das Tätowieren keine staatlich anerkannte Ausbildung ist, bekommen ausbildende Betriebe auch keine Unterstützung durch die IHK, den Staat oder andere Institutionen, wie es bei regulären Ausbildungen der Fall ist.

Gatekeeping ist allgegenwärtig

Streng genommen gibt es für jeden Zugang zum Beruf ein Gate, welches zu durchqueren ist.
Jeder Auszubildende muss eine Bewerbung schreiben oder eine Prüfung absolvieren.
Wenn du studieren möchtest, brauchst du einen bestimmten NC oder für kreative Berufe eine Bewerbungsmappe oder eine kreative Prüfung. Manche Studienfächer sind überlaufen und die Unis limitieren die Anzahl der Personen, die sich immatrikulieren dürfen.
Selbst für einen Aushilfsjob ohne Qualifikationen muss man vorab eine Bewerbung einsenden.

„Ihr könnt ja nicht mal Nadeln löten, aber nennt euch Artists…“

Wenn du dich mit dem Thema Gatekeeping in der Tattoobranche in den sozialen Medien schon mal beschäftigt hast, ist dir vielleicht aufgefallen, dass grade die alten Hasen gern den Satz droppen „Ihr könnt ja nicht mal Nadeln löten.“ Mit dieser abfälligen Bemerkung wollen sie ihre Abneigung gegenüber der nachkommenden Generation deutlich machen. Früher musste ein Tattoo-Azubi nicht nur Nadeln selber löten, auch die Tätowiermaschinen waren ein komplexes Gerät, dessen Tücken, Schwächen und Fähigkeiten zu durchschauen Jahre gedauert hat. Heute kann dank modernster Technik jeder im Handumdrehen eine Tattoomaschine zum Laufen bringen, man muss „nur noch“ lernen, saubere Linien zu ziehen.

In diesem Konflikt zwischen den Generationen gibt es Parallelen zum Konflikt innerhalb der kulturellen Aneignung. „Alte“ Tätowierer haben oft viel Wissen über die Traditionen und die Geschichte der Tätowierkultur. Sie kennen die in unserem Fall europäischen und amerikanischen Ur-Väter des Gewerbes, sie kennen die Geschichte der Tätowiermaschinen und sind einen sehr harten Weg gegangen, um ihren Beruf auszuüben. Material war schwer zu bekommen, musste teilweise selbst hergestellt werden. Es gab nur mangelhafte behördliche Unterstützung in Sachen Hygiene und auch das Internet konnte noch nicht wirklich weiterhelfen, wenn es zu Problemen kam.

Plötzlich kommen immer mehr selbsternannte Artists auf die Bühne, tätowieren mit Pens, machen atemberaubende Vorlagen mit iPads und KI und wissen, wie man in kürzester Zeit Follower generiert. Sie haben aber noch nie eine Spulenmaschine in der Hand gehalten oder wissen, wer Herbert Hoffmann ist. Das ärgert viele alteingesessene Tätowierer. Es macht ihnen Angst, dass die Geschichte und die Kultur der Tätowierkunst nicht angemessen gewürdigt und aufrecht erhalten wird. Und die zunehmende Kommerzialisierung der Tätowierkultur gibt der Entwicklung zusätzlich einen faden Beigeschmack.

Ja, die Zukunft lässt sich nicht aufhalten und nicht jede Kritik an Veränderungen ist immer berechtigt. Ich würde mir wünschen, dass wir alle mehr Verständnis für die jeweils andere Seite aufbringen und versuchen, die Schwierigkeiten der anderen Seite der Medaille zu verstehen.

Meine Meinung

Ich frage mich, warum es beim Tätowieren selbstverständlich sein soll, dass wir unser Wissen ohne Gegenleistung an jeden, den es interessiert, verschenken? Dieses Wissen hat einen immensen Gegenwert, der unseren Lebensunterhalt sichert. Es ist wertvolles Wissen. Zu verlangen, dass man ein immaterielles Gut einfach verschenkt, finde ich persönlich frech und dreist.

Viele Studios haben auch Angst davor, dass ein Azubi oder private Tätowierer, denen man via Insta DM Tipps zukommen lässt, ihnen später die Kundschaft streitig macht. Das Beispiel vom Tattoo-Azubi, der nach einem Jahr Support ein Konkurrenzstudio in direkter Nachbarschaft eröffnet, ist nicht an den Haaren herbeigezogen, das haben viele wirklich erlebt.

In Berlin gibt es beispielsweise inzwischen so viele Studios und Tätowierer, die privat Zuhause arbeiten, dass viele alte und etablierte Studios Probleme haben, ihre Terminkalender zu füllen. Die Tatsache, dass es keine staatliche Anerkennung gibt, führt auch dazu, dass es keine staatliche Regulierung gibt, wie vielen Menschen Zugang zu dem Beruf gewährt wird.

Wahrscheinlich denken manche jetzt beim Lesen „Selbst Schuld, der Markt reguliert sich selbst.“ oder „Wenn der Azubi deine Kunden klaut, ist er wahrscheinlich besser, als du.“ Und das kann ja alles stimmen. Aber machmal ist der Azubi vielleicht auch einfach günstiger, weil er einen Ehepartner hat, der den Großteil des gemeinsamen Lebensunterhaltes bestreitet oder der Azubi erzählt Blödsinn über das alte Studio. Manch einer war schon vor Beginn der Tattookarriere Influencer und lockt jetzt die Kundschaft mit einer Reichweite, von der unsereins nur träumen kann. Es gibt tausend Szenarien in diesem Konstrukt, über die man streiten und diskutieren kann, die vielen Selbstständigen jedoch auch Existenzängste bescheren.

Ich denke, es wäre friedlicher, wenn es eine staatliche Zugangsregelung zu diesem Beruf gäbe. Diese Haltung ist in der Tattoobranche nicht sehr beliebt. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es diesem Konflikt das Potential gänzlich entziehen würde. In meiner Vorstellung dieses Szenarios wüssten die Bewerber genau wo und zu welchen Bedingungen sie Zugang zu diesem Beruf bekommen könnten. Alle wüssten, dass jeder die gleichen Inhalte gelernt und die gleichen Prüfungen gemeistert hat. Eine Zugangsregelung würde zu weniger Missgunst führen und im besten Fall sogar vor Respekt vor der nachfolgenden Generation.

So oder so, die Änderung der organisatorischen Umstände liegt nicht in unserer Hand. Wir können lediglich dazu beitragen, dass das Internet, insbesondere die sozialen Medien, weniger mit Hass und Missgunst gefüttert werden. Es ist immer unbequem, sich in die andere Seite hineinzuversetzen und diese zu verstehen. Aber wir sind Tätowierer oder wollen es werden, wir gehen gerne unbequeme Wege und wir arbeiten für Menschen. Ein Funken Menschlichkeit und Respekt vor der anderen Seite sollte auch am Ende des Tages bei der abendlichen Social-Media-Nutzung übrig sein.

2 Kommentare

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Alles sehr schön erklärt und geschrieben, Dafür bedanke ich mich. Ich tätowiere selbst seit über 30 Jahren und bilde keine Lehrlinge aus. zwei mal habe ich mein Wissen weitergegeben an Freunde, die auch tätowieren wollten aber es nicht ernst genommen haben. Hier werde ich jetzt nicht weiter darauf eingehen. Bei der Berufszugangsregelung bin ich aber ganz anderer Meinung! Zuerst einmal, wer sollten denn die Ausbilder sein? Etwa Beamte von der IHK? Wo sollten denn jedes Jahr hunderte von Absolventen dieser Ausbildung zukünftig arbeiten? Was ist mit Tätowierern, die schon ihr Leben lang als solche Arbeiten, müssten sie auch noch eine Ausbildung machen? Welche Kriterien würden denn in einer Prüfung bewertet, technisch gesehen kann jedes Schulkind mit einem Tattoo-pen umgehen. Wie soll Kunst denn staatlich geprüft werden, unser Grundgesetz verspricht die Freiheit der Kunst, die wünsche ich mir auch für das Tätowieren.
Die einzige staatliche Reglementierung, die ich mir vorstellen kann, ist das absolvieren eines Hygieneseminars. Dies ist ohnehin schon in einigen Bundesländern erforderlich. Vielen Dank und schöne Grüße!

Hallo Tanina, danke für deinen Beitrag 🙂
Ich meine mich zu erinnern, dass es bereits Diskussionen um eine Berufszugangsregelung zwischen Politik und den Berufsverbänden gab. Damals stand im Raum, dass Tätowierende mit einer festgelegten Berufserfahrung (z.B. 10 Jahre Tätigkeit in diesem Gewerbe) keine Prüfung absolvieren müssen.
Im Rahmen einer Ausbildung würde das nach meinem Verständnis so ablaufen, dass die Betriebe, also etablierte Tätowierer die Azubis praktisch ausbilden und sie in einer Berufsschule den theoretischen Teil lernen. Hygiene, Haut, BWL, Marketing, sowas halt…
Zum Thema Kunst in Kategorien einteilen denke ich, dass das schon klappen wird. Der Azubi lernt die theoretischen und handwerklichen Grundlagen und kann sich mit diesem Grundstock selber entfalten. Beim Frisörberuf klappt das ja auch ganz gut. Es gibt normale Frisöre, die den Omis die Dauerwellen machen und solche, die abgefahrenste Frisuren für Promis und Laufstege kreieren. Der kreative Weg ist ja so gesehen nicht regulierbar und muss es auch nicht sein.
Ganz liebe Grüße
Esther

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